Andreas Spiegler

Schreiben. Stolpern. Schluckauf.

Archive (Seite 17 von 67)

Empfänger gesucht.

Wir wechseln. Die Reifen. Die Kleidung. Die Frisur. Ändern ständig unsere Vorlieben und Geschmäcker. Bleiben kurz stehen. Lachen. Schauen uns um und ziehen weiter. Zurück bleiben einsame Gegenstände. Menschen. Herzen. Schauen dem Suchenden hinterher und beginnen im selben Moment zu verdrängen. Erinnerungen sind wie Falten. Sie werden mit dem Alter immer tiefer. Zeigen uns Vergangenes. Die schönen und traurigen Momente. Wir wollen sie ebnen. Straffen. Ungeschehen machen. Aber sie bleiben immer Teil von uns. Immer ein Teil von mir. 

Die Zeit schubst mich durch die Gänge des Lebens. Schnäppchen. Neues. Altes. Ich werde überflutet von Eindrücken. Und aus mir strömen Gedanken. Spülen jeden hinfort, der mir zu Nahe kommt. Überfordert paddeln Menschen gegen meine Fühlsinnflut. Ich strecke die Hand aus, ziehe Einzelne auf meine Insel und weihe sie ein. Halte sie fest. Und zerdrücke sie. Zu feinem Sand. Der an meinen Beinen haften bleibt. Ich trage ihn mit mir. Ich trage dich mit mir. Will nichts vergessen. 

All das macht mich zu dem, was ich behaupte zu sein. Behauptungen in eine Form gegossen. Zu heiß für deine Lippen. Ich schaue dich an. Meine Augen kriechen in deine. Und fallen aus mir heraus. Blind. Ungeschickt. Tapse ich umher. Auf der Suche nach der richtigen Suche. Ich google „Leben“. Schließe mein Laptop und renne barfuß in Richtung Sonne. Bleibe an der nächsten Straßenecke stehen. Warte auf ein Zeichen. Doch finde nur… 

Es kommt alles, so wie es soll. Aber woher weiß es meine Adresse?

#ichbinhier

Eigentlich bin ich ein großer Freund von diesem Internet. Ich begann vor 17 Jahren unterschiedlichste Dinge zu teilen. Habe Freunde gefunden und eine Leidenschaft entdeckt, die ich bis heute teile. Doch irgendwie fühlt es sich mittlerweile anders an. Wo früher eine kleine technikaffine Gemeinschaft über ihre Lieblingsfilme sprach und ihren Alltag in unfassbar vielen belanglosen Momenten dokumentierte, sehe ich heute eine perfektionierte Lebenseinstellung. Wir sitzen mit unseren grauen Laptops in Cafes, teilen Listen mit den schönsten Burgerläden auf dem Kiez oder teilen alle die selben politischen Statements. Zwei Posts darunter beschweren wir uns über die Dummheit der anderen. Satire darf alles. Präsidenten, Parteien, Lebenseinstellungen. Und wenn uns eine Meinung nicht passt, dann wird derjenige beleidigt. Zurechtgewiesen. Geblockt. Über die letzten Jahren formten sich so Filterblasen, die dann zum Beispiel bei Landtagswahlen oder dem Brexit platzen. Wie konnte denn das passieren?! Woher kommen die alle plötzlich?! Don Dahlmann fordert aktiv die Flucht aus der Filterblase. Obwohl ich seinen Punkt verstehe, sehe ich das als sehr schwierig. Mein Freundeskreis ist ziemlich homogen. Auch auf der Arbeit decken sich die meisten Ansichten. So stöbere ich durch Blogs mit anderen Ansichten – und stoße hauptsächlich auf Hass. Keine Auseinandersetzung, sondern das Aufzählen von Schwächen. Keine Diskussion, sondern stumpfes Beleidigen all derjenige, die nicht (m)einer Meinung sind. Es geht nicht um Annäherung. Es geht um Bekämpfung. Gewinnen und Recht haben. Und leider aus allen Lagern – auch wenn eigentlich für Vielfalt und Pluralismus auf die (virtuellen) Straßen gegangen wird. Meike Lobo beschreibt sehr gut die Folgen dieser Abstrafung und Verurteilung anderer Ansichten. “Gegner” werden so lange vor sich her getrieben, bis sie einknicken oder verschwinden. Das wird dann als Sieg bewertet. Doch ist er das wirklich?

Ja, es gibt Ansichten die gegen das Recht verstoßen und zu verurteilen sind. Untolerierbare Haltungen. Aber so einfach ist es nicht. Michael Seemann spricht von der multibeschissenen Weltordnung. Da ist nicht der eine Bösewicht. Es braucht sehr viel Interesse und Energie, die ganzen Verstrickungen zu verstehen. Deswegen kann auch nicht mit einem Satz die “allumfassende Wahrheit” ausgesprochen werden. Und schon lange reichen 140 Zeichen nicht aus, um Zusammenhänge zu erklären. Dennoch sehe ich in sozialen Medien jeden Tag, wie sich Menschen(gruppen) gegenseitig zerfleischen. Und eigentlich nichts wirklich verändern. Die Fronten nur weiter verhärten.

“Die soziale Ausgrenzung von Konservativen beispielsweise als frauen-, schwulen- und flüchtlingshassende Nazis führt ja keineswegs dazu, dass diese konservativen Meinungen verschwinden und die Gesellschaft fortschrittlicher und offener wird.”

Es wird geschrien. Mit dem Mittelfinger zeigt man auf alles, was nicht akzeptiert wird. Was passieren kann, wenn man sich mit viel Druck auf eine Person einschießt, durfte ich gerade erst hautnah miterleben. Und das schockiert mich. Macht mich nachdenklich. Weil auch ich selbst merke, wie man sich zurückzieht. Der Konfrontation aus dem Weg geht. Initiativen wie #ichbinhier (aus dem Schwedischen #jagärhär) setzen sich für die Rückeroberung der Diskussionskultur in den sozialen Medien ein. Sie wollen in den Kommentarbereichen wieder einen Austausch etablieren. Vermitteln und Deeskalieren. Ich möchte mich selbst mehr dazu zwingen, einen Dialog einzugehen. Anderen Meinungen zuzuhören, sie versuchen zu verstehen und dann zu bewerten. Mit Argumenten zu reagieren. Denn ich habe keine Lust, dass sich die Lager noch weiter auseinander bewegen und wir alle dann irgendwann das Ergebnis ausbaden müssen…

Rückblick. 2016.

Fliegen & Fallen. Das beschreibt ganz gut das zurückliegende Jahr. Auch wenn ich ein paar Tage zu spät bin. Die letzten Monate waren laut. Bunt. Und irgendwie genau richtig so. Musste mir eingestehen, dass am Ende nur das Herz und der Bauch entscheiden. Dass Menschen gehen, wenn der Schmerz zu groß wird. Habe sie wieder lachen gesehen. Und still mitgegrinst. Ich fand mich. Zwischen ausgeträumten Ansichten und viel zu vielen Worten.

Ich habe meinen Job gewechselt. Eine Auszeit genommen. Viel geschrieben. Nur wenig davon geteilt. Stelle momentan lieber Fragen und höre zu. Bin dankbar für die vielen Gespräche. Mitternachts. Nebeneinander oder kilometerweit entfernt. Bin gelaufen. Mit so viel wunderschöner Musik auf den Ohren. Getanzt. Gestolpert. Geweint. Getraut. Geküsst. Habe mich durch Hamburg treiben lassen⛵️. Stuttgart besucht. Am Bodensee geträumt. Endlich wieder Berge erklommen. Die Gassen von Barcelona entdeckt. An der Ostsee getanzt. Mit Lieblingsmenschen durch Berlin gestolpert. Lissabon. Prag. Belek. Weimar. Die Schuhe grau. Breites Grinsen. Neue Pläne im Hinterkopf. Noch mehr Farbe zwischen die Linien. Heute bin ich hier. Endlich angekommen. Hallo 2017. 🤗

Heute bin ich hier

Der Rauch hat sich gelichtet und Neujahrswünsche sind zusammen mit ihren Raketen wieder zu Boden gefallen. Ruhige Musik hat die hektischen Schläge der letzten Nacht ins Bett gebracht. Sitzen noch ein paar Momente daneben, erzählen kleine Geschichten von großen Träumen. Du sitzt auf der Terrasse, leichter Regen im Gesicht, die Haare nass. Heute beginnt alles von Vorne. Geht einen anderen Weg. Halbvolle Flaschen auf der Fensterbank. Schwarze Rauchspuren an den Fingern. Diese friedliche Ruhe und nicht mehr. Vergessen sind wilde Umarmungen, hektisches Fliehen vor Funkenschleudern. In der ferne duften Mandeln. Ich sitze in der Ecke des Raumes. Lasse Blicke streifen und an hohen Decken empor steigen. Dort sitzen sie dann und blicken auf die Szenerie hinunter. Vergangenes wirkt farblos. Wenige Konturen, die noch Ausmaße der letzten Monate mutmaßen lassen.

Du bekommst von alledem nichts mit. Bist in deinen eigenen Gedanken, lässt dich von ihnen wärmen. Da kommt nichts an dich heran. Weder die verlorene Liebe, noch die wiedergewonnene Angst vor dem morgen. Da ist nichts als Zuversicht. Ein nicht enden wollender Horizont, Vogelschwärme durchziehen den blauen Raum. Stehst auf und gehst an das Fenster. Deine Gedanken überdecken das Grau hinter dem kleinen Garten. Deine Füße spüren buntes Konfetti. Hast du gestern das getan, was du wolltest? Oder dich vom drumherum leiten lassen? Fragen, deren Antworten nie geschrieben werden. Lässt sie heraus und ziehen. Kaffee auf dem Tisch. Schwarze kleine Pfützen. Bitter und irgendwie unpassend. Die Musik wird hektischer. Kannst es einen Moment ertragen, dann gehst du durch den Raum. Machst mit einer Handbewegung ganze Orchester stumm. Sie hören auf dich, während du nur einer Sache Gehör schenkst. Sie atmet ruhig und liegt noch im anderen Zimmer. Hat die Augen geschlossen. Du dein Herz weit offen, während du dich neben sie setzt. Traust dich nicht sie zu berühren, zu groß die Angst sie zu wecken. Aber das innere Verlangen ist stärker und so streichst du ihr kurz über die Wange. Die Belohnung folgt sofort wenn auch nur für eine Sekunde. Sie grinst und ein warmer Schauer läuft deine Arme entlang. Lässt dich ebenfalls grinsen, doch wird dieser Zustand den gesamten Tag anhalten. Und das ist richtig. Fühlt sich so an, als muss es so.

Du bleibst sitzen. Regungslos blickst du in ihr Gesicht. Draußen geht alles seinen bekannten Lauf, aber davon bekommst du nichts mit. Dein Fuß wippt mit der Melodie. Langsam aber gewollt. Weshalb aufstehen, wenn man die schönsten Momente im Liegen erlebt. Phantasievolle Träume, leidenschaftliche Bewegung und Momente der Sicherheit. Der Vertrautheit. Und deshalb bleibst du in diesem kleinen Zimmer. Streifst deine Schuhe ab und legst dich neben sie. Irgendwann ausblenden und euch beide frei lassen. Ohne Publikum. Ohne Fragen oder lästige Prophezeiungen. Nur du und sie, ein paar Töne und Waffeln.

Jedes neue Jahr gibt dir die Chance auf Vorsätze. Neue Sprünge, neue Wege, neue Ziele. Ich lasse das alles auf der Liste des letzten Jahres. Lasse die Liste auf dem Tisch und den Tisch im Gestern. Denn heute bin ich hier. Bei dir. Und da will ich gerade sein.

ممنون

Apfelpunsch in der Hand. Es riecht nach Lebkuchen. Mandarinen. Das Fenster auf Kipp lässt Hamburgs Lichter still zuschauen. Ich bin nervös mit Betreten des Raums. Unsicherheit macht sich breit. Schaue in viele Gesichter. Fühle mich kurzzeitig fremd – obwohl sie die Fremden sind. Die vor einigen Jahren oder wenigen Monaten nach Deutschland kamen. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Doch mit dem Wunsch nach Sicherheit. Einem Neuanfang. Ohne Wissen, wie das denn geht.

Ich gehe zu dir. Stelle mich vor und spüre einen festen Händedruck. Ein kurzes Grinsen. Ich greife nach Sätzen. Möchte nicht zu nahe treten, dennoch keine Distanz aufkommen lassen. Bist du zum ersten Mal hier? Ja. Man hatte dir im Deutschkurs von diesem Treffen erzählt. Du magst Deutsch. Liest gerne. Bücher über Psychologie. Sie sind kompliziert. Das magst du auch. Lernen. Kleine Schritte nach vorne. Dankbar sein für alles, was angeboten wird. Nicht klagen. Das hilft dir nicht weiter. Und auch nicht deiner Familie. Die in Afghanistan lebt. Nur wenige Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Trotzdem weit entfernt von einer Chance. Mama vermisst dich. Du vermisst Mama. Deine Augen glitzern beim Erzählen. Ein bisschen aus Wehmut. Ein bisschen aus Stolz. Sprichst du über die anderen in deiner Unterkunft, wird deine Stimme ernst. Geradeheraus. Du verstehst die Klagen nicht. Die Beschwerden der anderen. Ich möchte reflexartig Erklärungen suchen – du lässt diese nicht zu. Was würdest du tun, wenn 200 Menschen vor deiner Tür stehen und reinwollen? Das geht nicht einfach so. Man muss Abstriche in Kauf nehmen. Auch mal warten. Ein Ziel vor Augen. Festhalten.

Wie kann man euch helfen? Du schaust mich an. Kein Geld. Geld kommt und verschwindet wieder. Niemand sieht etwas davon. Dir helfen Gespräche. Orientierung. Integration. Gemeinsam ein paar Schritte laufen. Über unterschiedliche Ansichten reden. Voneinander lernen. Das hört sich alles so ehrenhaft an. Ich tue mir schwer das anzunehmen. Du schaust dich im Raum um. Zeigst auf die anderen. Zeigst auf uns. Grinst dabei und wiederholst deine Sätze. Gespräche. Orientierung. Das suchen wir alle. Wenn ein Baum im Wald Feuer fängt, brennen irgendwann alle Bäume. Egal ob nass oder trocken. Egal welche Art oder Form. Ein Sprichwort. Draußen der Weihnachtsbaum auf der Alster.


Ungeordnete Gedanken in meinem Kopf. Ein Pochen. Meine Sorgen vergleichsweise bedeutungslos. Meine Geschichte ein dünnes Heft im Vergleich zu Deiner. Sätze in unterschiedlichsten Sprachen – trotzdem konnten wir miteinander sprechen. Und mehr braucht es gerade nicht. ممنون. Dankbar.