Schalte den Fernseher aus und lasse mich ins Sofa fallen. Fühle mich leer. Knapp drei Stunden Wahlberichterstattung hinter mir. Viele enttäuschte Gesichter und ein paar Menschen, die dreckig lachen. Vor wenigen Tagen hetzte der wahrscheinlich zukünftige Kanzler gegen grüne und linke Spinner – jetzt spricht er von Vereinigung und Politik für die Mehrheit der Bevölkerung. Ich sehe hauptsächlich Steuererleichterungen für Unternehmen und Besserverdiener. Und ganz viele konservative Ansichten, von denen ich mich nicht vertreten fühle. Es scheint sich alles zu wiederholen. Schon wieder.
Auf der anderen Seite des Planeten versucht Trump die Justiz zu entmachten. Manche sprechen vom „administrativen Staatsstreich“, bei dem sich ein Milliardär Zugang zu den großen Institutionen verschafft, um seine Interessen zu verfolgen. Entwicklungsgelder werden eingefroren, Staatsbedienstete gekündigt und ein autoritärer Umbau vorangetrieben. Während der Hitlergruß wieder salonfähig wird, sieht Vance die größte Gefahr nicht bei China oder Russland, sondern bei einer Abschaffung der Meinungsfreiheit von Innen. Musk betont die Wichtigkeit von Nationalstolz und fordert uns Deutsche auf, uns unserer historischen Schuld endlich zu entledigen. Ich kann das alles nicht mehr.
Gleichzeitig zeigt Silicon Valley sein wahres Gesicht. Der Wunsch nach einem „neuen Rom“. Reiche Tech-Milliardäre machen einen Kniefall vor Trump, lassen die Community über Wahrheit entscheiden und lenken Informationsfluss und Meinungsbildung. Die Ungleichheit wächst. Genau wie Desinformation. Auch deswegen gehöre ich zu den Erstunterzeichnern von SaveSocial – das freie Internet wird abgeschafft. Es braucht offene Standards. Für Vielfalt und Transparenz durch Gesetze sowie finanzielle Förderung. Es braucht Umverteilung.
Ich bin müde. Und das ist gefährlich. Es macht mich handlungsunfähig. Lässt mich zurückschrecken vor Widerspruch. Wenn wir die Welt nicht den Autokraten und Faschisten überlassen wollen, müssen wir uns vernetzen. Ich brauche Geschichten, die Lust auf eine andere Zukunft machen. Ich brauche den Austausch. Und ich brauche Momente, in denen ich das Gefühl habe, etwas beeinflussen zu können. Deshalb werde ich mich dieses Jahr in Gespräche stürzen. Möchte mich ehrenamtlich engagieren. Möchte Menschen zuhören. Möchte stützen und von der Gemeinschaft gestützt werden. Möchte laut sein. Werde laut sein. Denn es reicht. Zeit für Widerstand.


Welche Fragmente sind sonst so übrig geblieben?
- Jede persönliche Schutzmauer bekommt irgendwann Risse. Benedict Wells erzählt in „Vom Ende der Einsamkeit“, wie drei Geschwister mit dem Verlust ihrer Eltern umgehen. Liebevoll wird Schicht für Schicht abgetragen. Jeder Charakter geht anders mit dem Schmerz um und als Leser darf ich daran teilhaben. Aus der Perspektive von Jules darf ich spüren, wie es sich anfühlt, Menschen gehen zu lassen. Und wie viel Kraft und Anläufe es braucht, um Selbstwert aufzubauen. Ein tolles Buch.
- Wir Menschen stecken unsere Energie gerne in den Endspurt. Egal ob früher im Studium oder heute bei der Produktentwicklung. Ist der Meilenstein erreicht, beginnt die Planung der nächsten Runde. Planung, Diskussionen, Endspurt. Frameworks wie OKR können bei falscher Anwendung dazu führen, dass mehr Zeit mit der Methodik als mit der Arbeit verbracht wird. John Cutler schlägt vor, ein Quartal in vier Phasen zu unterteilen: 2-6-4-1. Also zwei Wochen Research und Discovery, sechs Wochen Nutzerzentrierte Umsetzung, vier Wochen iteratives Anpassen auf Basis von Feedback und eine Woche zum Abschluss des Quartals. Ich mag die Idee einer festen Struktur und den Fokus auf eine Sache.
- Helene, die Mutter von drei Kindern, steht auf, geht zum Balkon und springt. So beginnt „Die Wut, die bleibt” von Mareike Fallwickl. Ein Buch, das die Herausforderungen und Erwartungen, denen Frauen in der Gesellschaft ausgesetzt sind, auf beeindruckend vereinnahmende Art beschreibt. Ein Roman, der mich Wut und Schmerz mitspüren lässt. Gefühle, die zum Alltag von so vielen Frauen gehören. Sexualisierte Gewalt, Mental Load und ungerecht verteilte Care-Arbeit. Nicht einfach zu lesen – und das soll es auch nicht sein.
- Bin kein Freund von Beziehungsratgebern. Zu unterschiedlich sind die Bedürfnisse und Menschen, die einen Lebensabschnitt miteinander teilen. Den Gedanken von Ester Perel könnte ich aber über Stunden lauschen. In „Was Liebe braucht“ betont sie die Wichtigkeit von Neugier. Wie wertvoll „Mitfreude“ (Compersion) und Wertschätzung sind. Konflikte als Notwendigkeit für Entwicklung und Abgrenzung. Überhaupt ist sie ein großer Befürworter von Eigenständigkeit. Sicherheit ist der Tod von Lust. Mit zunehmender Vertrautheit geht diese Spannung verloren. So sind Intimität und Erotik keine Gegensätze, sondern Pole, die man ausbalancieren muss.
- Vom Außenseiter zum Rapper, der Stadien füllt. Casper ist ein Musiker, dessen Lieder für mich so viel bedeuten. Stand weinend auf Konzerten, nur um Minuten später strahlend zu springen. Sowas von da. In seinen Texten finde ich so viel Gefühl und Suche. Die Podcast-Serie Ikonen von 1LIVE blickt auf seine Karriere. Nimmt mich mit durch seine Biografie und lässt mich so viele Lieder ganz anders sehen. Schade, dass ich beim großen Konzert-Höhepunkt in Bielefeld nicht dabei war. Aber zum Glück gibt es einen Live-Mitschnitt.
- Auch Robbie Williams war ein Außenseiter. Betrachtet sich selbst als Affen, der akzeptiert und gefeiert werden möchte. Im Biopic „Better Man“ begleiten wir ihn vom Kind im Wohnzimmer bis auf die großen Bühnen. Irgendwo zwischen Entzugsklinik und Villa. Bin kein richtiger Fan seiner Musik, trotzdem berührte mich der Film an vielen Stellen. Dieser große Wunsch, geliebt und gesehen zu werden. Diese Sehnsucht nach Bedeutung. Mochte den Stil und die Effekte. Auch wenn der Film an der Kinokasse floppte. Eine Achterbahn – im guten Sinne.
- Wollte selbst immer irgendwie dazugehören und hab vor allem als junger Erwachsener viel getan, um nicht aufzufallen. Verurteilt oder beurteilt zu werden. Im Artikel „Radical Belonging“ von Joe Primo lernte ich, dass Dazugehören oft bedeutet, sich anzupassen. Sich zu beweisen. Im Gegensatz dazu ist Zugehörigkeit etwas, das uns innewohnt. „Othering“ – die bewusste oder unbewusste Abgrenzung von anderen – entsteht aus der Angst, selbst ausgeschlossen zu werden. Doch dadurch verstärkt sich die Isolation und Einsamkeit. Musste über die letzten Jahre selbst lernen, zu sehen und zu spüren, was ich bereits bin. Und bin dankbar über jeden Menschen, der mir dabei als Spiegelfläche und Impulsgeber half.
- Zum Schluss eine Musikerin, an der momentan niemand vorbeikommt: Doechii. Eine Rapperin, die Oldschool mit ihrem eigenen Stil verbindet. Eine Kampfansage an die Industrie. Und an Männer. Selbstbewusst, aber auch nachdenklich. Sex-Positivity mit Intellekt. Zurück zu den Wurzeln von Hip Hop: Eine Widerstandskultur voller Kraft.
Du hast auch genug? Dann schreib mir. Du kennst Initiativen und Organisationen, die etwas gegen diese Ohnmacht tun? Dann schreib mir. Alleine wird uns das alles kaputtmachen.
Weiterlesen