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Fragmente 🍂 Herbst 2025

Bunte Blätter in der Kapuze. Die ersten Kastanien und das vielleicht letzte Open-Air-Konzert. Ich mag den Herbst. Seine Farben und Gemütlichkeit. Ich verfluche den Herbst. Seine Dunkelheit und Kälte. Hab die letzten Wochen zu sehr genossen. Spaghetti-Eis und Radtouren. Den Ausflug in den Tierpark. Lernen und Stolpern durch Berlin. Drachenfliegen in Dänemark. Mit dem Alpaka durch den Wald. Kinderlachen, Schaukeln, Buddeln.

Hab nicht nur meine Wohnung bunt gestrichen, sondern auch meine Webseite. 25 Jahre online. Sitze nicht mehr im Kinderzimmer, dafür immer noch stolz vor dem Bildschirm. Blättere durch hunderte Blogeinträge. Mag dieses öffentliche Tagebuch nur zu sehr. Will wieder mehr über einzelne Themen schreiben. Unregelmäßig, dafür ausführlicher. Der Newsletter wird zukünftig alle drei Monate erscheinen. Fragmente sammeln und einordnen.

Freue mich auf Kletterkurse, Kochabende und Fabian Römer. Auf Kerzen, Ausflüge, die ersten Kekse. Und auf Spaziergänge mit dicker Jacke, Kakao und breitem Grinsen.

Worüber habe ich geschrieben?

  • Es passiert so viel um uns herum. Es passiert so viel in uns. Wir fühlen uns erschöpft. Müde vom Optimieren und Reagieren. Überforderung an so vielen Stellen. Wie kann Psychoanalyse dabei helfen, wieder Stimmigkeit zu finden? Und welche Modelle lassen sich auch im Produktmanagement aufgreifen?
  • Wir reden ständig. Geben ungefragt Tipps. Hören nur selten aufmerksam zu. Bleiben lieber an der Oberfläche. Schade. Sind wir doch alle Teile von komplexen, eingespielten Systemen. Wie wertvoll Perspektivwechsel sind, lernte ich in meiner systemisch-psychologischen Ausbildung.

Ich teile meine Gedanken regelmäßig in meinem Blog. Berufliche Gedanken landen auf LinkedIn. Eindrücke aus meinem Alltag auf Instagram oder Mastodon.

Welche Fragmente sind sonst so übrig geblieben?

  • Während ich über Wochen im Studium meine Skripte auswendig gelernt habe oder noch heute für Ausbildungen auf Multiple Choice Tests lerne, verschlingt Künstliche Intelligenz in Bruchteilen einer Sekunde das Wissen der Welt. Joe Hudson glaubt, dass sich nun der Fokus von jenem Wissen auf Weisheit verschiebt. Fähigkeiten, die nur schwer imitiert werden können. Wie emotionale Klarheit durch die bewusste Wahrnehmung von Gefühlen bei sich und anderen. Oder Urteilsvermögen aufbauend auf persönlichen Erfahrungen und einem Selbstmitgefühl. Verbindung und Sicherheit. Empathie, Verletzbarkeit und psychologische Sicherheit. Dan Shipper stimmt zu und sieht Fähigkeiten wie Intuition, Kreativität und das Gespür für Qualität als zukünftig unverzichtbar.
  • War viel unterwegs. Auf Veranstaltungen und Konferenzen wie der Product at Heart und dem Waterkant Festival. Mag die ersten Momente, wenn der Blick über das Gelände wandert. Bekannten Gesichter. Große Umarmungen. Vorfreude auf das Programm. Notizen und Bilder von klugen Sätzen. Aber auch bekannte Phrasen, Hinweise auf das eigene Buch oder beliebiges Netzwerken. Künstliche Intelligenz. Automatisierung. Skalierung. Bingo. Mich überraschen die Menschen, die nicht aus meiner Branche sind. Die ganz anders auf das schauen, was ich jeden Tag mache. Sehne mich nach mehr Überraschung und weniger Selbstvermarktung. Möchte Dinge lernen, die ich davor nicht auf dem Schirm hatte. Vielleicht muss ich auf andere Konferenzen gehen. Denn irgendwie ist da eine Müdigkeit. Die war da früher nicht. Und soll da auch nicht bleiben.
  • Liebe ist ein Begriff, den ich selten bei der Arbeit verwenden würde. Ein Artikel von Torben Lohmüller sieht nicht den Pathos, sondern ein Prinzip. Liebe als Bedingung jedes gelingenden Miteinanders. Sie schafft einen Raum, der Veränderungen zulässt. Vertrauen und Verbindung. Gegenseitiges Anerkennen. Keine Vorschrift. Kein Micro-Management. Was in einem System passiert (Arbeit) geschieht im Inneren, verborgen, jedem Zugriff entzogen. Führung wird zur Frage, wie viel Vertrauen ich wagen kann. Ob ich bereit bin, Kontrolle loszulassen. Keine Methode heilt die Beziehung. Aber vielleicht wertschätzendes Zuhören?
  • Mit 37 noch mal beim Z2X Ideenfestival reingeschlichen. Verbinde viele schöne Erfahrungen mit dieser Veranstaltung. Aufrüttelnde Impulse zu Beginn. Die Ehrlichkeit der Teilnehmenden und das Gefühl, das es besser geht. Auf einem ehemaligen Friedhof treffen sich Menschen zwischen 20 und 29 Jahren. Entstehen in Sessions, Workshops und Talks neue Perspektiven zu Klimawandel, Gerechtigkeit und Digitalisierung. Die Teilnehmenden bewerben sich mit konkreten Ideen oder Initiativen – oder auch einfach mit dem Wunsch zu lernen und sich zu vernetzen. Dankbar für die Einladung und geweckten Erinnerungen.
  • Auf ein Date mit Themen. Rausfinden, welche Themen interessant sind. Sarah Schauer beschreibt Recherche als Hobby. Nicht für die Arbeit, sondern aus Neugier. Du nimmst ein Thema mit nach Hause. Wikipedia ist der erste Kaffee. YouTube das erste Abendessen. Manchmal wird daraus eine Beziehung, manchmal bleibt es bei einem netten Abend. Aber immer lernst du etwas über dich selbst. Welche Fragen du stellst, wenn niemand zuschaut. Ich gehe neuerdings öfter auf Dates mit Themen. Gestern war ich mit Karen Horney unterwegs. Mal schauen, wer als Nächstes drankommt.
  • Kristallklares Meer, versteckte Buchten und Berge, die direkt ins Wasser fallen. Mein Arm um deine Hüften. Gespräche am Wasser. Die Natur überwältigend, rau und großzügig. Gleichzeitig war da ein Gefühl von großer Zerrissenheit. Verstörend waren die Waldbrände im Süden des Landes. Der laute, rücksichtslose Straßenverkehr und das Gefühl, dass Gleichberechtigung in manchen Bereichen noch viel Arbeit vor sich hat. Parallel habe ich Frei von Lea Ypi gelesen. Sie beschreibt darin ihre Kindheit im zerfallenden kommunistischen Regime Albaniens und den chaotischen Übergang in eine neue Welt, in der die ersehnte Freiheit sich als komplex und widersprüchlich entpuppt. Hab mich immer wieder in Ypis Erzählung gefunden: die überwältigende Natur und die große Gastfreundschaft auf der einen Seite und die spürbaren Reibungen einer Gesellschaft im Umbruch auf der anderen.
  • Vanessa war vier, Philipp fünf. Geschwister auf Zeit. Bis die Pflegefamilie sie zurück ins Heim bringt. „Kurzzeitschwester“ erzählt von Philipps Suche nach seiner verlorenen Schwester. Nach zwanzig Jahren des Schweigens. Die Doku hat in mir eine Zerrissenheit ausgelöst. Wann gehört man zu einer Familie? Was bedeutet es, ein Kind zu pflegen? Und dann gehen zu lassen? Generationstrauma, Schuld, Versagensängste. Tabus, die eine Familie jahrelang stillschweigend trägt. Bewegend und schwer auszuhalten.
  • Stromrechnungen übersetzen, bevor man rechnen kann. Tahsim Durgun ist Dolmetscher. Er vermittelt beim Arzt und auf Ämtern. Hilft seinen jesidisch-kurdischen Eltern, die das Träumen aufgegeben haben. Damit ihre Kinder irgendwann in Deutschland glücklich werden. „Mama, bitte lern Deutsch“ erzählt von Integration. Dem Versuch davon. Humorvoll, aber ohne Kitsch. Ehrlich, aber ohne Selbstmitleid. Eine Anklage und eine Versöhnung. Aber vor allem eine Liebeserklärung an seine Mutter.

Habt einen schönen Herbst. 🍂

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Produktmanagement 🤝 Systemisch-psychologische Beratung

Wir reden ständig. Erzählen von unseren Erfahrungen. Teilen ungefragt unsere Meinung und geben Tipps, wie alles besser sein könnte. Bleiben an der Oberfläche. Weil es einfacher ist. Ursache und Wirkung. Problem und Lösung.

In dieser zweiteiligen Serie schreibe ich über meine Veränderung. Über das Verstehen von Mustern und Anpassen der eigenen Haltung. Psychoanalyse brachte mir Zugewandtheit und Ruhe. Empfinde mich als interessierter. Möchte aber noch besser verstehen, was in Menschen und Teams passiert. Unbewusste Muster und Übertragungen aufdecken. Einen Perspektivwechsel anstoßen, der nicht direkt Lösungen in den Vordergrund stellt. Verständnis statt Handlungszwang.

Muss verstehen, wie sich Situationen begleiten lassen. Bessere Fragen stellen. Den Raum halten. Durchatmen – was in der schnelllebigen Produktentwicklung selten passiert. Dort werden Prozesse optimiert, Ideen skaliert. Beziehungen lassen sich aber nicht beliebig skalieren. Wir sind Teil komplexer Systeme. Regeln verbinden uns miteinander. Grenzen schaffen Hierarchien. Erwartungen prägen Verhalten.

Systemisch-psychologisches Coaching hilft als Form gleichberechtigter Zusammenarbeit. Es erweitert Perspektiven. Macht Umstände greifbarer. Akzeptiert jede Persönlichkeit als einzigartig.

Coaching? Puh.

Der Begriff Coaching schreckte mich ab. LinkedIn wird dazu beigetragen haben. Postkartensprüche und ein fehlender Standard. Meine Therapie hat mir gelehrt, dass Veränderung Zeit braucht. Und ein Studium der Psychologie. Und tausende Stunden an Praxis. Bis Freunde von ihrem Coach erzählten. Ich war skeptisch. Und doch neugierig.

Mit den Wochen veränderte sich ihr Umgang miteinander. Zugewandter. Rücksichtsvoller. Sie schwärmten von den Terminen. Waren interessierter. Aneinander. An mir. Irgendwann begannen sie eine Ausbildung. Blieben in ihren alten Jobs. Wurden keine Business Coaches. Keine Masterclass und auch kein Retreat.

Ich wollte das auch. Wollte verstehen, wie Beziehungen funktionieren. Welche Werkzeuge Systeme besprechbar machen. Also begann ich eine Ausbildung am Hamburger Institut für systemische Lösungen.

Systemisch-psychologische Beratung.

Die systemisch-psychologische Lehre geht davon aus, dass Menschen in Beziehungen leben. In Systemen. Familie. Beruf. Freundeskreis. Probleme sind nie isoliert. Sie entstehen dazwischen. In den Wechselwirkungen.

Ziel ist es, die Komplexität der realen Welt zu verstehen. Sichtbar zu machen. Gemeinsam vorhandene Ressourcen zu identifizieren und Menschen in ihrer Entwicklung zu begleiten, um Lösungen zu finden. Dabei arbeiten Coach und Klient:in zusammen.

Als Coach verantworte ich den Prozess. Halte den Raum und das Ziel im Blick. Neutrale Position. Angstfrei. Auf Augenhöhe. Dazu stelle ich vor allem Fragen. Zirkuläre Fragen, die dazu anregen, die Perspektive zu wechseln und dabei Muster zu erkennen. Es geht nicht um das „Warum?“ – dafür um „Was funktioniert?“, „Wie?“ und „Womit?“

Die systemisch-psychologische Beratung hat Grenzen. Sie ist keine Behandlung im medizinischen Sinne. Keine Diagnosen. Keine Heilungsversprechen. Es geht um Gestaltungskompetenz. Um Wahlfreiheit. Um eigene Ressourcen. Selbstklärung statt Fremdbestimmung.

Menschen und Beziehungen.

Meine Therapie fragte nach dem Warum. Vergangenheit. Ursachen. Die systemische Ausbildung verändert meinen Blick. Auf die Gegenwart. Im Zentrum steht die Idee des Konstruktivismus: Es gibt nicht die eine Wahrheit. Jeder konstruiert seine Wirklichkeit. Das verunsicherte mich. Wird mir doch überall gesagt, was stimmt. Welches Lager richtig ist. Freund oder Feind. Lässt man jedoch unterschiedliche Ansichten zu, schafft dies einen Möglichkeitsraum.

In diesem Raum sind wir keine Einzelkämpfer. Wir stehen in Wechselwirkung.Alles wirkt auf andere. Und umgekehrt. Keine linearen Ketten. Sondern Kreisläufe. Rückkopplungen. Nicht der Sender bestimmt die Wirkung einer Botschaft. Sondern der Empfänger. Was ich sage und was ankommt, sind zwei völlig verschiedene Dinge. 

Diese Erkenntnis verändert meine Art der Zusammenarbeit.Statt Lösungen zu kennen: Perspektiven wechseln. Statt Fehler suchen: Neugierig sein. Auf Unterschiede. Auf Wahrnehmungen. Nicht Experte. Sondern Komplize.

Denn oft hat alles eine Bedeutung. Jedes Verhalten hat einen verborgenen Sinn oder einen Nutzen für das System. Jedes Element folgt einem „Wofür?“. Dieses Wofür erfüllt eine wichtige Funktion, denn es beschreibt das Ziel und deckt die Logik eines Systems auf. 

Beispiel: Ein Produktteam ignoriert User Research. Obwohl es gute Gründe gibt, sie einzubinden. Die gewohnte Frage nach dem „Warum?“ sucht Ursachen. Schuld. Fehler. Führt zu Rechtfertigungen. Oder Anklagen. „Wofür?“ sucht die Funktion in der Gegenwart. Das Ignorieren der Unterstützung ist das Symptom. Vielleicht schützt sich das System aber vor Überforderung, Kontrollverlust und dem Verlust des Expertenstatus.

Unser Ziel könnte sein, dieses Wofür zu erkunden, statt das Problem schnell weg machen zu wollen. Verstehen statt lösen. Nicht Perfektion, sondern gemeinsames Verständnis entwickeln. Vermitteln und gemeinsames Erkunden.

Drei Modelle zum bewussten Erkunden möchte ich mit euch teilen:

Das Innere Team

Fast alle Teamkonflikte oder Innovationsstaus sind keine Fehler von Einzelnen, sondern das Ergebnis eingespielter Interaktionsmuster. Ähnlich verhält es sich mit unseren inneren Konflikten: Oft fühlen wir uns zerrissen, weil verschiedene innere Anteile in uns streiten. Das Modell des „Inneren Teams“ macht diese Dynamik sichtbar.

Beispiel: Ihr wollt eine große Produktentscheidung treffen. Die „innovative Visionärin“ jubelt. Der „sicherheitsorientierte Analyst“ warnt vor Risiken. Der „Harmoniebedürftige“ scheut den Konflikt mit der Entwicklung. Diese inneren Stimmen blockieren.

Das Modell hilft uns, Zerrissenheit zu verstehen. Unterschiedliche Stimmen wertzuschätzen und zu moderieren. Unsere Aufgabe ist es dann, diese verschiedenen Anteile wie ein guter Teamkapitän zu einer gemeinsamen, tragfähigen Entscheidung zu führen.

Der Teufelskreis

Wenn im Team etwas schiefläuft, suchen wir oft instinktiv nach einem Schuldigen. Die systemische Sichtweise schlägt eine andere Perspektive vor: Was, wenn das Problem gar nicht bei einer Person liegt, sondern im Muster dazwischen? Genau hier setzt das Modell der „Teufelskreise“ an.

Beispiel: Das Sales-Team fühlt sich vom Produktteam ignoriert und übt deshalb immer mehr Druck aus, um endlich gehört zu werden. Das Produktteam fühlt sich von diesem Druck überfallen, empfindet die Forderungen als unrealistisch und zieht sich noch weiter zurück. Das wiederum frustriert das Sales-Team, das den Druck weiter erhöht. Niemand ist „schuld“ – beide Seiten stecken in einem Muster fest, das die Situation Runde für Runde verschlimmert.

Das Teufelskreis-Modell hilft uns im Produktmanagement, diese unsichtbaren Dynamiken zu visualisieren. Statt uns zu fragen „Wer hat angefangen?“, können wir die gesamte Schleife visualisieren. Allein das Erkennen des gemeinsamen Kreislaufs entlastet. Nimmt die persönliche Schuld aus dem Konflikt. Es kann geziehlt nach einem Ausstieg gesucht werden. Meist durch kleine Kommunikations-Änderungen.

Werte und Entwicklungsquadrat

Manchmal entstehen Probleme nicht aus Schwächen. Sondern aus übertriebenen Stärken. Das „Werte- und Entwicklungsquadrat“ macht das sichtbar. Jeder positive Wert hat eine dunkle Seite. Eine entwertende Übertreibung.

Beispiel: Ein Team legt großen Wert auf Schnelligkeit (ein positiver Wert). Wird diese Schnelligkeit aber übertrieben, schlägt sie in Flüchtigkeit um (die Übertreibung). Der positive Gegenpol zur Schnelligkeit ist die Sorgfalt. Wird diese aber übertrieben, führt sie zu lähmendem Perfektionismus. Der Konflikt im Team ist oft nicht Schnelligkeit vs. Sorgfalt, sondern Flüchtigkeit vs. Perfektionismus.

Das Werte- und Entwicklungsquadrat veranschaulicht Wertediskussionen im Team. Es hilft zu erkennen, dass oft nicht zwei gegensätzliche Positionen aufeinanderprallen, sondern dass beide Seiten eine positive Absicht haben. Das Quadrat verwandelt einen „Entweder-Oder“-Konflikt in eine konstruktive „Sowohl-Als-Auch“-Entwicklung.

Eine Illustration, die innere Anteile visualisiert. Ein Mensch. Verschiedene Perspektiven.

Diese drei Werkzeuge teilen grundlegende Gemeinsamkeiten. Keine schnellen Lösungen. Eher Kompasse. Helfen beim Fokus-Wechsel. Weg von Schuldfrage. Hin zur Mustererkennung. Machen unsichtbare Dynamiken sichtbar. Im Inneren Team und im echten Team. Dieses Verstehen ist die Voraussetzung, um aus festgefahrenen Kreisläufen auszusteigen. Für bewusste, konstruktive Schritte.

Fazit: Menschen für Menschen.

Ihr versteht nun vielleicht, warum ich meine Psychoanalyse und die systemisch-psychologische Ausbildung als so wertvoll betrachte. Wie sie mich verändert haben. Und meine Arbeit beeinflussen.

Ich sehe mich viel seltener als Experte oder Berater. Ich verstehe mich als Komplize. Zugewandt Neugierig. Auf Augenhöhe.

Als Produktmenschen können wir einiges ausprobieren:

  1. Die Macht unbewusster Muster. Nicht nur zuhören, was Nutzer:innen sagen, sondern aufmerksam beobachten, was sie tun. Und im Team akzeptieren, dass eine Diskussion oft ein Symptom für einen tieferen Konflikt ist. Zum Beispiel um Anerkennung oder Sicherheit.
  2. Den Raum halten, statt ihn mit Lösungen zu fluten. Als Produktmenschen stehen wir unter konstantem Druck, Antworten zu liefern. Eine zugewandte Haltung ermöglicht uns, die Unsicherheit im Problemraum länger auszuhalten. Dem Team Zeit für echtes Verständnis zu geben und nicht auf die erstbeste Lösungsidee anzuspringen.
  3. Beziehungen als das eigentliche Betriebssystem sehen. Unsere wichtigste Aufgabe ist nicht das Managen von Backlogs, sondern das Gestalten von Kommunikation.
  4. Akzeptieren, dass es nicht die eine Wahrheit gibt. Unsere Aufgabe ist nicht, den einen „richtigen“ Weg zu finden, sondern die verschiedenen Wahrheiten zu einer gemeinsamen Strategie zu integrieren.
  5. In Kreisläufen denken, nicht in geraden Linien. Ein Problem ist kein isoliertes Ereignis, sondern oft das Ergebnis eines eingespielten Prozesses. Ein Feature-Wunsch ist Teil eines größeren Nutzungskontextes.
  6. Neugierig auf Wechselwirkungen sein. „Was passiert hier gerade zwischen uns? Welches Muster erzeugen wir gemeinsam?“ Das verlagert den Fokus von der Person auf die Dynamik und eröffnet konstruktive Lösungswege.

Ich habe das Gefühl, unsere Branche konzentriert sich zu sehr auf technische Entwicklungen, betriebswirtschaftliche Dynamiken und den nächsten großen Trend. Wir optimieren Prozesse, implementieren Tools und analysieren Daten. Wir beschäftigen uns mit Technologie. 

Aber setze ich mich mit den Erkenntnissen der letzten Jahre auseinander und versuche die Beobachtungen in meinem Umfeld zu verstehen, so werde ich immer überzeugter: Wir müssen uns wieder mehr mit den Menschen und ihren Verhaltensmustern beschäftigen.

Damit wir den Kern nicht aus den Augen verlieren: Menschen entwickeln Produkte für Menschen. Das braucht einen Blick unter die Oberfläche, das Aushalten von Unsicherheit, das ehrliche Interesse an den Mustern hinter dem Verhalten.

Es geht nicht darum, dass wir jetzt alle zu Therapeut:innen werden. Oder Coaches. Es geht mir darum, in unserer Arbeit zugewandter zu sein. Nachsichtiger. Am Ende vielleicht einfach nur menschlicher. Die besten Produkte entstehen nicht aus besten Prozessen. Sondern aus tiefstem Verständnis für Menschen. Das geht nur mit ehrlicher Neugier. Und Offenheit fürs Stolpern.

Produktmanagement 🤝 Psychoanalyse

Ich kann nicht mehr. Das wird mir alles zu viel. Keine Ahnung, wie wir damit umgehen sollen. In fast jedem Gespräch spüre ich momentan eine Form der Unzufriedenheit. Der Erschöpfung. Vom Optimieren, Reagieren und Präsentieren.

In dieser zweiteiligen Serie werde ich darüber schreiben, was mir in den letzten Jahren geholfen hat, Stimmigkeit zu finden und so meine Arbeit als Produktmensch zu verbessern: Psychoanalyse und systemisch-psychologische Beratung. Habe mich so viel mit Menschen und ihren Mustern beschäftigt. Habe verstanden, warum ich mich verhalte, wie ich mich verhalte. Kann ruhiger mit der hohen Geschwindigkeit umgehen und Menschen auf Augenhöhe begegnen. Kann Bedürfnisse zugewandter begreifen. Bin interessierter. Und auch ein ganzes Stückchen zufriedener.

Meine These: Wir müssen uns mehr mit Menschen beschäftigen. Wir sollten verstehen, was in uns passiert. Und wie wir in den Systemen um uns herum agieren. Denn am Ende entwickeln Menschen Produkte für Menschen.

Ein System unter Druck.

Spreche ich mit Menschen, spüre ich eine enorme Überforderung und mentale Belastung. Irgendwie verständlich. Die Komplexität, die Geschwindigkeit und die Unsicherheit in unserer Arbeit und unserem Umfeld wachsen. Kaum haben wir uns an eine Krise gewöhnt, kommt die nächste. Dazu eine Flut an Informationen, ständige Erreichbarkeit, immer neue Tools und Methoden. Das „System Mensch“ scheint überlastet. Emotional unter Druck. Können nicht mehr. Wollen nicht mehr. Organisationen spüren das direkt. Berichten von Unruhen. Dem ständigen Druck, sich zu verändern und abzuliefern.

Was passiert? Eine fast zwanghafte Fokussierung auf schnelle Lösungen und heilsame Frameworks. Auf jede Unsicherheit antworten wir mit einem neuen Prozess, einem neuen Tool, einem neuen „Quick Win“. Wir springen direkt in die Handlung. Optimieren und automatisieren. KI liefert uns jetzt noch schneller Anstöße und scheinbare Lösungen. Und dieses Tempo verschärft eine Oberflächlichkeit.

Spüre immer häufiger Identitäts- und Sinnfragen bei Einzelpersonen. Wer bin ich eigentlich in diesem System? Wie reagiere ich auf die Erwartungen meines Umfelds. Und wie auf die Veränderungen in der Gesellschaft? Eine ständige Sinnsuche. Innere Zerrissenheit und Unsicherheit nehmen zu. Hab das Gefühl, wir verlernen uns selbst und einander zuzuhören. Stimmen zu laut. Lärm zu groß.

Sind Menschen unter Druck, dann sind es auch die Organisationen, in denen sie arbeiten. Dabei müssen diese immer mehr schaffen. Teams sind crossfunktional über Landesgrenzen hinweg aufgestellt. Design, Entwicklung, Produkt: jede dieser Professionen hat ihre eigene Sprache, ihre eigenen Bedürfnisse, ihre eigene Kultur. Wir arbeiten für das System, indem wir uns in internen Machtkämpfen verlieren oder Metriken optimieren, die nur intern relevant sind. Statt die (unbewussten) Bedürfnisse unserer Kund:innen zu adressieren. Wir reagieren übereilt. Der schnelle Wechsel von Krise zu Krise, von Tool zu Tool, gefährdet Gemeinschaft, Sinn und am Ende auch die Qualität unserer Arbeit. Wir rennen und rennen und rennen.

Dieser Sprint zehrt an den Kräften. Diese Menge an Themen überfordert. Jedenfalls ist das meine Erfahrung. Hatte selbst ein intensives Kapitel, das mich nicht schlafen ließ. Bin immer wieder mit Menschen aneinandergeraten. Ich war unzufrieden mit mir und meinen Ergebnissen. Antriebslos. Genervt. Leer.

Hab mich ständig gefragt, wie ich dieses Problem loswerde. Hab Bücher gelesen, Selbsthilfe-Artikel verschlungen, Tagebuch geschrieben und Strukturen in meinem Alltag angepasst. Hab mich im Kreis gedreht und unfassbar viel Energie verbrannt.

Dann ging nicht mehr viel. Ich brauchte Hilfe. Wollte verstehen, woher dieses Gefühl der Überforderung kam und wie es wieder weggeht. Und so begann ich eine Analytische Psychotherapie. Also ab auf die Couch. 

Analytische Psychotherapie.

Die Analytische Psychotherapie ist ein Verfahren, das auf der Psychoanalyse beruht. Die Grundannahme ist, dass viele unserer täglichen Probleme, unsere Muster und Konflikte, ihre Wurzeln in der eigenen Lebensgeschichte haben. In unbewussten Überzeugungen und Erfahrungen. Diese steuern unser Handeln, ohne dass wir es merken. Ziel der Therapie ist es, diese unbewussten Muster und inneren Konflikte aufzudecken und zu verarbeiten, um ein besseres Verständnis der eigenen Persönlichkeit zu gewinnen. Und so schrittweise eine Veränderungen im Erleben und Verhalten zu erreichen.

Wie lief das ab? Ein bisschen wie das Klischee aus Serien. Ich lag zweimal pro Woche für 50 Minuten auf einer Couch und habe geredet. Mit mir selbst. Gedanken ausgespeichert. Gefühle in Worte verpackt. Assoziiert. Über alles, was mir in den Sinn kam.

Und mein Therapeut? Er hat vor allem den Raum gehalten. Er hat meine Gefühle ausgehalten. Meine Wut, meine Trauer, meine Verzweiflung. Er hat mich nicht dafür verurteilt. Ich durfte klagen, ohne dass er mir sagte, ich solle mich zusammenreißen. Ich musste nicht sofort in die Lösung springen, so wie ich es gewohnt war. Es gab keinen Handlungsdruck. Er hielt einfach die Stimmung mit mir aus. War da. Nur für mich.

Und er hat Fragen gestellt. Selten Ratschläge gegeben, aber immer wieder Fragen gestellt. Fragen, die mich näher zu meinen Gefühlen führten. Das fiel mir zu Beginn der Therapie unfassbar schwer. Ich wollte Tipps und Antworten. Wollte nicht warten. Wollte nicht ständig mein eigenes Klagen hören. Wollte den nächsten Schritt oder eine Antwort darauf, wie andere Menschen diese Themen für sich lösen.

Das Ziel der Therapie war aber nicht, ein Symptom schnell zu beseitigen. Das Ziel war die bewusste Wahrnehmung von Gefühlen. Sich Zeit lassen und sich Zeit geben. Zu verstehen, warum ich so bin, wie ich bin. Aufdecken, nach welchen Mustern ich meine Entscheidungen treffe. Um im Alltag diese Muster direkt zu erkennen. Und so wieder die Kontrolle gewinnen. Eigenverantwortung übernehmen. Aber auch Nachsicht haben. Mit mir. Mit meiner Situation. Mit meiner Vergangenheit.

Ich merkte, wie sich meine Haltung veränderte. Wie ich mit mir umging. Wie ich auch meinen Kolleg:innen anders begegnete. Ich stellte mehr Fragen. Wollte begreifen. Gab uns Zeit, ohne Agenda miteinander zu sprechen. Wurde besser darin, Unsicherheiten auszuhalten. Entwickelte eine noch größere Neugier für Menschen. Und ihre Muster.

Muster erkennen: Psychoanalyse im Produktmanagement

Das Schöne an der Psychoanalyse ist: Sie ist neben Therapieform auch ein Wissensschatz über das Menschsein. In Büchern und Podcasts lerne ich Konzepte kennen. In Podcasts und Blogbeiträgen durchdinge ich Lebensgeschichten. Manches fühlt sich bekannt an. Anderes fremd. Das ist aufregend. 

Drei dieser Leitplanken, die meinen Blick auf Menschen und Zusammenarbeit verändert haben, möchte ich vorstellen:

Das Unbewusste

In der Therapie lernte ich, meine eigenen wiederkehrenden Muster zu erkennen. Warum ich in bestimmten Situationen immer gleich reagiere. Das Konzept des Unbewussten erklärt das: Der größte Teil unseres Seelenlebens, unsere tiefsten Wünsche, Ängste und Motivationen, spielt sich unter der Oberfläche ab. Diese unbewussten Kräfte steuern unser Verhalten und unsere Entscheidungen, ohne dass wir es direkt merken. Das gilt für uns, aber auch für unsere Nutzer:innen und Teams.

Beispiel: Ein Nutzer fordert vehement eine neue Dashboard-Funktion mit noch mehr Kennzahlen. Das ist sein bewusster Wunsch. Hört man genau zu, stellt sich heraus, dass er sich von seinem Vorgesetzten oft kontrolliert fühlt. Sein eigentliches, unbewusstes Bedürfnis ist also nicht das Dashboard selbst, sondern das Gefühl von Sicherheit, Kontrolle und Kompetenz, um in Meetings bestehen zu können.

Haltung fürs Produktmanagement: Wir müssen graben. Unsere Aufgabe ist es nicht nur, die geäußerten Wünsche aufzusammeln, sondern verstehen zu wollen, woher sie kommen. Auf der Suche nach wahren, unbewussten Treibern. Produkte, die diese tieferen Bedürfnisse ansprechen, schaffen eine viel stärkere Verbindung zu den Nutzer:innen.

Der Widerstand

Mein Therapeut sprang nur selten auf meine Klagen an. Er hielt den Raum. Hielt meine Gefühle mit mir aus und gab mir Zeit. Veränderung braucht Zeit und stößt ständig auf Widerstand. In der Psychoanalyse wird Widerstand nicht als böser Wille oder Sturheit verstanden, sondern als ein unbewusster und völlig normaler Schutzmechanismus. Er schützt eine Person oder ein ganzes System vor einer Veränderung, die als bedrohlich für die eigene Stabilität, Identität oder Sicherheit empfunden wird.

Beispiel: Ein Team soll eine neue, effizientere Arbeitsweise einführen. Obwohl alle die logischen Vorteile verstehen, kommt der Prozess nicht in Gang. Meetings werden verschoben, technische Hürden tauchen plötzlich auf, die Stimmung ist schlecht. Der bewusste Grund sind „operative Schwierigkeiten“. Der unbewusste Widerstand könnte aber die Angst sein, den eigenen Expertenstatus zu verlieren, die eingespielte Team-Routine aufzugeben oder die Sorge, den neuen Anforderungen nicht gewachsen zu sein.

Haltung fürs Produktmanagement: Widerstand ist ein wertvolles Signal. Statt mit mehr Druck oder besseren Argumenten zu reagieren, können wir den Raum halten und neugierig werden. Die produktive Frage ist nicht: „Warum seid ihr dagegen?“, sondern: „Wovor genau schützen wir uns? Was würden wir verlieren, wenn wir es anders machen?“ So wird die Angst dahinter sichtbar und wir können gemeinsam Lösungen finden, die diese Bedürfnisse berücksichtigen.

Die Übertragung

Ich lernte, dass die Beziehung zum Therapeuten ein zentraler Teil der Arbeit ist. Wir begegnen Menschen nie neutral, sondern bringen immer unsere ganze Geschichte mit. Das Konzept der Übertragung beschreibt genau diesen Prozess: Wir projizieren unbewusst Gefühle, Erwartungen und Beziehungsmuster aus unserer Vergangenheit auf Menschen in der Gegenwart. Wir reagieren dann nicht auf die reale Person, sondern auf ein „Gespenst“ aus unserer eigenen Biografie. Und das passiert in beide Richtungen.

Beispiel: Ein Stakeholder reagiert auf eine Präsentation extrem misstrauisch, obwohl die Daten solide sind. Es könnte sein, dass ihr ihn unbewusst an einen früheren Mitarbeiter erinnert, der ihn enttäuscht hat. Er überträgt seine alten Gefühle von Misstrauen auf dich. Deine Reaktion darauf (vielleicht fühlst du dich persönlich angegriffen und wirst defensiv) ist die sogenannte Gegenübertragung. So entsteht ein Konflikt, der mit der eigentlichen Sache nichts zu tun hat.

Haltung fürs Produktmanagement: Wenn wir eine ungewöhnlich starke emotionale Reaktion auf einen Kollegen oder Stakeholder bei uns bemerken, können wir innehalten und uns fragen: „An wen aus meiner Vergangenheit erinnert mich diese Person gerade? Welche alte Geschichte wird hier bei mir berührt?“ Dieses Bewusstsein hilft uns, Konflikte zu entpersonalisieren. Wir können aufhören, auf die Übertragung des anderen zu reagieren, und stattdessen bewusst auf die eigentliche Situation eingehen. Vielleicht sogar die Gegenposition direkt einzunehmen.

Mit diesen Konzepten im Hinterkopf veränderte sich meine Wahrnehmung von Verhaltensweisen. Den Eigenen und den Fremden. Was nicht bedeutet, dass ich nun immer entspannt bleibe und jede Situation Schicht für Schicht auseinander nehme. Aber ich empfinde mich zugewandter. Das ist manchmal anstrengend, aber bringt mich Freunden, Kolleginnen und Kunden näher. Es hilft mir Empathie zu entwickeln. Nicht direkt in den Lösungsmodus zu springen.

Ich begleite Situationen und versuche, das Gegenüber zu verstehen. Stelle Fragen, höre zu und halte den Raum. In einer Branche, die sich zu oft auf technische Entwicklungen, betriebswirtschaftliche Dynamiken und den nächsten großen Trend konzentriert. Wir optimieren Prozesse, implementieren Tools und analysieren Daten. Wir teilen Belangloses auf LinkedIn für Reichweite und Bestätigung. Wir beschäftigen uns mit Technologie. 

Schaue ich auf meine Therapie, so bin ich überzeugt: wir müssen uns wieder mehr mit Menschen und ihren Verhaltensweisen beschäftigen. Offenheit uns selbst gegenüber und unseren Kolleg:innen. Nachsichtigkeit. Und Neugierde.

Die nächste Irritation, der nächste Konflikt, die nächste unerwartete Reaktion kommen bestimmt. Die Frage ist: Springe ich sofort in den Lösungsmodus? Oder atme ich durch und frage mich: Was passiert hier wirklich? Welches Bedürfnis, welche Angst, welches Muster zeigt sich gerade?

Dieser Perspektivwechsel hat meine Arbeit verändert. Wie sich meine Haltung durch eine systemisch-psychologische Ausbildung verändert, beschreibe ich im nächsten Teil.

Du bist neugierig geworden und möchtest tiefer ins Thema Psychoanalyse eintauchen? Dann mag ich dir den Podcast Rätsel des Unbewussten empfehlen. Oder wir gehen spazieren und quatschen. Das mag ich noch mehr.

Fragmente 🫣 Immer & Nie

Das haben wir schon immer so gemacht. Nie hörst du mir zu. Immer muss man dich daran erinnern. Nie glaubt man uns. Scheinbare Eindeutigkeit und gefühlte Gemeinschaft. Wir suchen Muster. Brauchen Strukturen. Wo Unsicherheiten warten, geben diese zwei Worte Kontrolle. Schubladen zum Einsortieren. Schwarz und weiß. Links und rechts. Für immer und für nie.

Wäre schön, wenn es so klar wäre. Ist es aber nicht. Viel mehr bewegen wir uns dazwischen. Wechseln zwischen Nähe und Distanz. Zwischen Verstehen und Missverstehen. Zwischen Liebe und Wut – manchmal sogar gleichzeitig. Merke, wie gefährlich diese Verallgemeinerungen sind. Sie nehmen uns die Neugier auf Menschen und ihre Bedürfnisse. Sie rauben uns den Mut zur Veränderung. Verhindern Abweichung und Überraschung. Sei es in der Produktentwicklung, bei ersten Begegnungen oder in langjährigen Beziehungen.

Muss mich regelmäßig darauf hinweisen, wenn ich aus einer einzelnen Beobachtung eine Identität erschaffe. Steckt doch oft viel mehr hinter einem Verhalten. Ein ständiges Pendeln. Wo gestern Gewohnheit der Auslöser war, ist es heute vielleicht Skepsis. Versuche mit Fragen einen Raum zu schaffen. Lasse mir Handlungen erklären. Und gibt es keine eindeutige Antwort, ist das meist der Beginn für Annäherung. Kreativität durch Ausprobieren. Weniger Schutzschild und mehr Risiko. Will das Gegenüber verstehen. Sei es eine Freundin, ein Kunde, eine Kollegin.

Auch ich wünsche mir Sicherheit. Eine Vorhersehbarkeit. Akzeptiere ich aber Zwischentöne und ein Vielleicht, dann ist da mehr. Mehr Nähe. Mehr Graustufen. Mehr Ausnahmen. Und weniger Einsamkeit in gefühlter Gemeinschaft. Haben wir schließlich immer so gemacht. Dann können wir es auch mal anders machen.

Welche Fragmente sind sonst so übrig geblieben?

  • Die Füße tief im Sand vergraben. Sonne im Gesicht. Hunde suchen Schatten. Wir suchen Steine. Ein paar Tage durchatmen. Auszeit in Dänemark. Pommes und Kuchen. Geschmolzenes Eis auf den Fingern. Stolpern über Äste und bleiben einfach liegen. Da ist ganz viel Neuanfang zwischen ganz viel Vergangenheit. Und da ist ganz viel Vorfreude.
  • Wieder auf der re:publica. Mag die neugefundene Tradition. Und die vielen bekannten Gesichter. Wieder zu viel verpasst, aber werde besser es zu akzeptieren. Das Motto Generation XYZ. Wie wollen wir eigentlich zusammenleben, wenn alles immer komplexer und lauter wird? Wieder dieses Gefühl von Aufbruch und Dringlichkeit. Lernte Dinge über Aufmerksamkeit, Tech-Bros, Kampf um Gerechtigkeit und das Gehirn, Einsamkeit, Liberalismus, gesellschaftliche Kipppunkte und das AfD-Verbot. Fühlte mich teilweise wie auf einer Demo. Gestärkt und nicht alleine. Wieder ein schönes Gefühl.
  • Stehe bei strahlendem Sonnenschein im Garten von Freunden. Schaue auf das Ehepaar. Strahlen im Gesicht. Eine gewisse Form des Stolzes. Dankbarkeit für die andere Person. Und für Zufälle. Szenenwechsel. Stehe bei strahlendem Sonnenschein an der Elbe. Auf meinem Arm das Kind von Freunden. Völlig begeistert beobachtet es die Wellen. Kommen und Gehen. Ein Glucksen. Vertrauen. Beide Situationen wunderschön. Beide Situationen dennoch schwer. In Gedanken gehe ich die letzten Jahre durch. Begleite diese Menschen durch unterschiedlichste Phasen. Auch ich war woanders und bin es heute noch. Dankbar für die Möglichkeit, ein Teil zu sein. Aber manchmal auch traurig, kein Teil zu sein.
  • Quick-Wins. Optimierung an der Oberfläche. Doch Probleme in Organisationen liegen oft tiefer. In veralteten Strukturen, widersprüchlichen Stoßrichtungen und gewachsenen Altlasten. Systemisches Denken hilft, hinter die Symptome zu blicken, Ursachen zu entwirren und die Dynamik sichtbar zu machen. Tief eintauchen statt schnell ausbessern. Machtstrukturen verstehen und Muster erkennen. Tools wie Service Blueprinting und Systems Thinking machen sichtbar, wo angesetzt werden muss. Und sie machen erlebbar, dass System als lebendigen Organismus zu begreifen sind. Voller Reibung, Widersprüche und Möglichkeiten.
  • Alzheimer als Form des Exils. Und als Ort neuer Begegnung. Arno Geiger erzählt in „Der alte König in seinem Exil“ die zärtliche Annäherung an seinen erkrankten Vater. Erinnerungen, die verschwimmen. Verlust und Verwandlung. Er begleitet seinen Vater in die eigene Welt, statt ihn zurückholen zu wollen. Dabei entdeckt er Würde, Humor, Poesie und eine neue Form der Liebe. Ein leises Buch über das Loslassen, das Bleiben und Finden von Verbundenheit.
  • Oft heißt es, Menschen hätten klare Bedürfnisse, die man einfach erfragen kann. In Wirklichkeit sind diese situativ und entstehen aus Lebensumständen. Dan Shipper zeigt, dass Menschen selten eine Liste ihrer Wünsche parat haben. Erst durch einen kreativen Impuls, eine eigene Perspektive, werden verborgene Bedürfnisse sichtbar. Spürbar. Etwas, das künstliche Intelligenz nicht kann. Kreative Provokation und empathisches Experimentieren. Es geht nicht nur um das Sammeln objektiver Daten, sondern auch darum, ein Gespür für die Dynamik zwischen Mensch und Moment zu entwickeln: Product Sense.
  • Seit 2018 sitzen Menschen wie ich in einem Kiosk an der U-Bahn Emilienstraße. Wir hören zu. Das ZDF hat dabei zugeschaut. „Wer offen zuhört und mitfühlt, lernt sich selbst und seine Gefühle besser kennen. Wer andere versucht zu verstehen, versteht sich selber besser. Zuhören ändert das Leben, Zuhören ist ein Geben und Nehmen“, sagt Gründer Christoph Busch.
  • „Innovation ohne Umkehr ist nur Iteration.“ – Was, wenn Mut nicht in Geschwindigkeit und Anpassung, sondern in Stillstand und Verstehen liegt? Produktivität, Output und Machen scheint die einzige Währung zu sein. In einer Welt, die sich immer schneller dreht. Luke Burgis schildert eindrucksvoll, wie sich subjektives Zeitempfinden verändert hat: Alles ist schnell – und es macht krank. Selbst erzwungene Pausen wie der Lockdown führen nicht zu Entschleunigung, sondern verstärken das Gefühl, permanent getrieben zu sein
  • Als Komplize mag ich Genossenschaften. Sie sind ein Raum zum Mitgestalten, Lernen und Teilen. Deshalb bin ich investierendes Mitglied des Neuen Amt Altones (NAA), einer Mischung aus Co-Working und Nachbarschaftstreffpunkt. Mit Regine und Birga sprach ich im Podcast „Neu & Amtlich“ über Arbeit, Haltung und leise Töne. Bis Ende September könnt ihr noch Mitglied werden. Das kann sehr schön werden.

Was machst du immer? Was nie? Und stimmt das?
Schreib mir gerne. Auch einfach so. 👋

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Fragmente 🙉 Zuhören

Die Sätze unvollständig, der Blick springt und die Finger reiben nervös aneinander. Ich versuche, Ruhe in die Situation zu bringen. Blicke in glasige Augen. Meine Aufmerksamkeit beim Gegenüber. Merke, wie ich Vermutungen anstelle und mich beim ablenkenden Nachdenken ertappe. Versuche, wieder vollständig mein Gegenüber an mich heranzulassen. Würde gerne die gesamte Last abnehmen, kann jedoch nur zuhören.

Seit ein paar Wochen sitze ich unregelmäßig in einem ehemaligen Kiosk an der U-Bahnstation Emilienstraße. Der Zuhör-Kiosk ist ein Ort, an dem unterschiedlichste Menschen stehenbleiben. Neugierige Blicke, ein paar Sätze durchs offene Fenster oder ein privates Gespräch. Meine Aufgabe ist es, da zu sein. Zeit zu schenken. Muss gar nicht alles verstehen, dafür aber präsent sein. Und aufmerksam. In einer Welt, wo jeder seine Meinung und Geschichten teilen kann, scheint es immer weniger Interesse an Anderen zu geben. Ein Nicken und das Warten auf die eigene Redezeit. Jeder kann senden. Oft ungefiltert. Rund um die Uhr. Reaktionen folgen in Echtzeit. Daumen hoch. Daumen runter. Menschen verstecken sich hinter Rollen. Wollen gefallen. Müssen auffallen. Das kann ermüden. Wir waren nie so vernetzt. Und irgendwie nie so alleine mit unseren Gefühlen.

Zuhören macht verletzlich. Ich lasse Gefühle in mich eindringen. Muss sie aushalten. Ein Innehalten. Das eigene Ego nach hinten stellen. Ich nehme dich wahr. Martin Gommel teilte auf Krautreporter Worte, die ihm guttun, wenn er depressiv ist. Es geht um die Anerkennung von Gefühlen. Keine Ratschläge, sondern ernst gemeintes Validieren und Begleiten: „Ich weiß nicht, was du gerade fühlst. Magst du es mir beschreiben?“ Im Rahmen meiner systemischen psychologischen Ausbildung habe ich viel über Beziehungen gelernt. Wie wertvoll es ist, Menschen bewusst und mit echtem Interesse zu begegnen. Sie nicht direkt in eine Schublade zu stecken. Neugierig zu bleiben. Hab viel über meine Glaubenssätze erfahren. Weniger werten, mehr fragen. Zuhören. Wahrnehmen. Echo und Komplize sein.

Welche Fragmente sind sonst so übrig geblieben?

  • Ein Dröhnen in der Luft. DJ Mad nickend auf der Bühne. Ich lehne wartend an der Wand des Clubs. Nach sechs Jahren ist Dendemann zurück auf der Bühne. Mit bekannten Liedern auf bösen Beats. Knistert. Kratzt. Bekomme das Grinsen nicht aus dem Gesicht. So viele schöne Erinnerungen. Jede Zeile drei Schichten. Noch immer relevant. Noch immer litt. Schön zu sehen, dass es ihm gut geht.
  • Jeder vierte Deutsche ist von einer psychischen Störung betroffen. Deshalb ist es verdammt wichtig, erste Symptome zu erkennen und Unterstützung leisten zu können. Als Mental Health Ersthelfer:in (MHFA Ersthelfer ) lernt man die Grundlagen über psychische Erkrankungen und wie eine Begleitung für den nächsten Schritt aussehen kann. Ein sehr intensiver Kurs. Berührend und konfrontierend. Aber verdammt wertvoll.
  • Stehe in der Markthalle und warte auf eine Band, die ich vor wenigen Wochen noch nicht kannte. RAUM27 machen tanzbare Alltagskritik, kleine Hymnen und laute Liebeslieder. Texte über Verlust. Keine Tränen. Sommerregen. Mauern. Um mich herum sind alle viel jünger als ich. Sind alle viel lauter als ich. Und genau das tut verdammt gut. Hab das Gefühl, dass junge Männer noch mehr Gefühle zulassen. Noch mehr über Ängste sprechen. Und noch weniger in Rollenkonstrukte gesteckt werden möchten. Das darf gerne so. Bitte bitte.
  • Blicke ich in den Spiegel, sehe ich den kleinen Andi. Wie er laut lachend durch den Garten rennt. Mit breitem Grinsen und blonden Haaren. Hab nach langem Überlegen den Schritt gewagt und meine Haare gefärbt. Ein bisschen aus Neugier. Ein bisschen aus Trotz und Wut auf meine Autoimmunerkrankung. Wenn manche Haare farblos zurückkommen, warum nicht selbst bestimmen, welche Farbe bleibt? Mag die Veränderung. Mag die Irritation, wenn ich Menschen nach langer Zeit wiedersehe. Und ich mag mich.
  • Es gibt Bücher, die kein Entkommen zulassen. Schonungslos beschreibt Claudia Schumacher in ihrem Debütroman „Liebe ist gewaltig“ die Folgen häuslicher Gewalt. Was macht diese mit einem Kind? Einer Jugendlichen? Einer Erwachsenen? Wie befreit man sich von der Realität, die vehement von den Eltern abgestritten wird? Schonungslos und kraftvoll geschrieben. Ein Kampf um Selbstbestimmung. Eine Suche nach Identität.
  • Auf dem Sofa vor mir sitzt ein Freund. Das Sofa steht in einem Café. Ich sitze im Publikum. Ein ungewohnt schönes Erlebnis. Fabian Neidhardt liest aus seinem neuen Roman „Endlosschleifentage“. Eine Geschichte über den Tod. Und über Zeit. Zu viel davon. Wie lange dauert ein Abschied, der nie ganz vorbei ist? Wie trauert man zum ersten Mal? Eine liebevolle Erzählung. Gibt Raum über Verlust nachzudenken. Lässt mich die Leere fühlen. Intensiv. Warm. Manchmal roh. Irgendwo zwischen Friedhof und abgedunkelter Wohnung.
  • Manche Wünsche bleiben unausgesprochen, auch wenn sie Leidenschaft bedeuten. In „Want“ sammelte Gillian Anderson anonyme Texte von Frauen aus der ganzen Welt. Sie beschreiben darin sexuelle Fantasien, Wünsche und Sehnsüchte. Ohne Einordnung. Ohne Pflicht zur Rechtfertigung. Es geht um Sex, Identität, Verletzbarkeit, Macht, Scham. Und um Zensur der eigenen Bedürfnisse. Bekomme ein Gefühl, wie divers, widersprüchlich und tief weibliche Lust ist. Kann nur erahnen, wie oft sie unter Schichten von Anpassung versteckt wird.
  • Was als höfliche Tasse Tee für eine einsame Frau beginnt, eskaliert zur obsessiven Belagerung – und zwingt den Protagonisten der Serie „Rentierbaby“ ein tief vergrabenes Trauma offenzulegen. Zwischen schwarzem Humor und fast unerträglicher Spannung zerlegt die Serie gängige Stalker-Mythen, entlarvt psychische Abgründe und zeigt das Versagen der Justiz. Unangenehm nah, die Mischung aus Scham, Schuld und verzweifelter Selbstrettung. Ein schmerzhaft ehrlicher Blick darauf, wie schnell Opferrolle und Täterrolle verschwimmen – und wie schwer es ist, danach wieder frei zu atmen.
  • Trauma. Trigger. Flashback. Begriffe, die teilweise sehr inflationär verwendet werden. Aber was ist ein Traum? Wie entsteht es? Und wie lässt es sich in Fragmenten integrieren? Verena König hat im Hotel Matze sehr einfühlsam darüber gesprochen, was unverarbeitete Erfahrungen machen und wie wichtig Sicherheit in Beziehungen ist.

Wann wurde dir das letzte Mal aufrichtig zugehört?
Schreib mir gerne. Auch einfach so. 👋

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