Heute morgen entdeckte ich die Mini-Dokumentation chat roulette von Casey Neistat. Sie beschreibt in etwa 6 Minuten einen Trend, der in letzter Zeit im Internet die Runde macht. Das Prinzip ist recht einfach. Man chattet mit wildfremden Menschen und überträgt dabei per Webcam eine Live-Aufnahme. Mittels Mausklick kann man jederzeit den Gesprächspartner wechseln.
Als ich zum ersten Mal dieses “Spielzeug” getestet habe, war ich schon etwas voreingenommen. Mich erinnerte die Idee stark an das typische Bild vom Videochat, bei dem perverse Männer versuchen, irgendwelche hilflosen kleinen Mädchen anzumachen. So unterschiedet Casey Neistat auch zwischen Männern, Frauen und Perversen, die man im Chat antrifft. Jedoch hatte ich das Glück, nur fast angezogene Menschen zu sehen. Die Gespräche sind sehr oberflächlich und gehen auch nur eine kurze Zeit. Dann macht es *zapp* und der Mensch auf der anderen Seite hat weiter geklickt. Irgendwie ein komisches Gefühl. Es ist wie im echten Leben, wenn man U-Bahn fährt. Man schaut durch den Wagon und springt von Gesicht zu Gesicht. Überlegt sich Geschichten zu den Personen und starrt dann wieder aus dem Fenster. Nur wird man bei Chat Roulette darüber informiert, wenn das Gegenüber sein Interesse verloren hat. Junge Schülerinnen, ein Opa, ein sehr behaarter Mann im Blaumann – all diese Menschen schauen einen kurz an und verabschieden sich wieder, ohne “Tschüss” zu sagen.
Warum aber nutzen trotzdem so viele Menschen diese Internetplattform. Vielleicht ist es einfach ein spannendes Gefühl, wenn man nicht weiß, wer einen gleich durch das winzige Fenster im Browser besuchen kommt. Woher die Person kommt. Wie sie aussieht und was sie sich verspricht. Es ist ein bisschen wie Blind-Dating. Nur wollen hier nicht alle einen Partner finden, sondern sich unterhalten. Mit fremden Menschen. Sie wollen aus dem bekannten Umfeld ausbrechen und suchen Kontakte im Netz. Man sieht kein Profil und kann sich somit nicht auf das Gespräch vorbereiten. Der erste Eindruck zählt. Mehr (leider) nicht. Es dauert eine Weile, bis ein Gespräch zu Stande kommt. Wir sprechen über unsere Berufe. Die Länder, aus denen wir kommen. Und fragen uns, warum wir eigentlich auf dieser Seite sind… 10 Minuten später verlasse ich die Seite.
Mir persönlich macht diese Entwicklung Angst. Zuerst präsentieren wir uns in ausführlichen Profilen. MySpace, StudiVZ und Facebook. In Twitter unterhalten wir uns mit der Wolke. Wer will, darf uns folgen. Unseren 140-Zeichen-Ergüssen zuhören. Sobald mich jemand nicht mehr interessiert, entfolge ich ihn. Hierbei geht es um den Inhalt, der mich entscheiden lässt, ob eine Person interessant ist. Bei Chat Roulette entscheide ich in viel kürzerer Zeit. Man sieht die Körperhaltung, das Gesicht und trifft eine Wahl. Und da man im Hinterkopf weiß, dass es noch mehr Menschen auf dieser Seite gibt, hat man keine Hemmungen, einfach weiter zu springen. Ich halte nicht viel von solchen schnellen Entscheidungen. Ich persönlich möchte Menschen lieber kennenlernen, bevor ich entscheide, was nun passiert. Möchte sehen, wie sie sich in unterschiedlichen Situationen verhalten. Ob sie ehrlich sind und was sie so handeln lässt, wie sie es tun.
Vielleicht sollten wir alle einen Gang zurückschrauben. Zuhören. Im Web und auf der Straße. Was bringen tausende Kontakte, wenn man oft den engsten Kreis an Freunden nicht richtig kennt…? Was bringt es, 2 Stunden auf einer Seite wie Chat Roulette zu verbringe, wenn man am Ende nur viele Gesichter mit deren Hobbys verknüpft hat? Oder ist das Ganze nur ein weiteres Werkzeug, um aus der eigenen Welt zu flüchten? Es sich leicht zu machen, indem man wildfremde Menschen beobachtet und anquatscht…?