Die Sätze unvollständig, der Blick springt und die Finger reiben nervös aneinander. Ich versuche, Ruhe in die Situation zu bringen. Blicke in glasige Augen. Meine Aufmerksamkeit beim Gegenüber. Merke, wie ich Vermutungen anstelle und mich beim ablenkenden Nachdenken ertappe. Versuche, wieder vollständig mein Gegenüber an mich heranzulassen. Würde gerne die gesamte Last abnehmen, kann jedoch nur zuhören.

Seit ein paar Wochen sitze ich unregelmäßig in einem ehemaligen Kiosk an der U-Bahnstation Emilienstraße. Der Zuhör-Kiosk ist ein Ort, an dem unterschiedlichste Menschen stehenbleiben. Neugierige Blicke, ein paar Sätze durchs offene Fenster oder ein privates Gespräch. Meine Aufgabe ist es, da zu sein. Zeit zu schenken. Muss gar nicht alles verstehen, dafür aber präsent sein. Und aufmerksam. In einer Welt, wo jeder seine Meinung und Geschichten teilen kann, scheint es immer weniger Interesse an Anderen zu geben. Ein Nicken und das Warten auf die eigene Redezeit. Jeder kann senden. Oft ungefiltert. Rund um die Uhr. Reaktionen folgen in Echtzeit. Daumen hoch. Daumen runter. Menschen verstecken sich hinter Rollen. Wollen gefallen. Müssen auffallen. Das kann ermüden. Wir waren nie so vernetzt. Und irgendwie nie so alleine mit unseren Gefühlen.

Zuhören macht verletzlich. Ich lasse Gefühle in mich eindringen. Muss sie aushalten. Ein Innehalten. Das eigene Ego nach hinten stellen. Ich nehme dich wahr. Martin Gommel teilte auf Krautreporter Worte, die ihm guttun, wenn er depressiv ist. Es geht um die Anerkennung von Gefühlen. Keine Ratschläge, sondern ernst gemeintes Validieren und Begleiten: „Ich weiß nicht, was du gerade fühlst. Magst du es mir beschreiben?“ Im Rahmen meiner systemischen psychologischen Ausbildung habe ich viel über Beziehungen gelernt. Wie wertvoll es ist, Menschen bewusst und mit echtem Interesse zu begegnen. Sie nicht direkt in eine Schublade zu stecken. Neugierig zu bleiben. Hab viel über meine Glaubenssätze erfahren. Weniger werten, mehr fragen. Zuhören. Wahrnehmen. Echo und Komplize sein.

Welche Fragmente sind sonst so ĂĽbrig geblieben?

  • Ein Dröhnen in der Luft. DJ Mad nickend auf der BĂĽhne. Ich lehne wartend an der Wand des Clubs. Nach sechs Jahren ist Dendemann zurĂĽck auf der BĂĽhne. Mit bekannten Liedern auf bösen Beats. Knistert. Kratzt. Bekomme das Grinsen nicht aus dem Gesicht. So viele schöne Erinnerungen. Jede Zeile drei Schichten. Noch immer relevant. Noch immer litt. Schön zu sehen, dass es ihm gut geht.
  • Jeder vierte Deutsche ist von einer psychischen Störung betroffen. Deshalb ist es verdammt wichtig, erste Symptome zu erkennen und UnterstĂĽtzung leisten zu können. Als Mental Health Ersthelfer:in (MHFA Ersthelfer ) lernt man die Grundlagen ĂĽber psychische Erkrankungen und wie eine Begleitung fĂĽr den nächsten Schritt aussehen kann. Ein sehr intensiver Kurs. BerĂĽhrend und konfrontierend. Aber verdammt wertvoll.
  • Stehe in der Markthalle und warte auf eine Band, die ich vor wenigen Wochen noch nicht kannte. RAUM27 machen tanzbare Alltagskritik, kleine Hymnen und laute Liebeslieder. Texte ĂĽber Verlust. Keine Tränen. Sommerregen. Mauern. Um mich herum sind alle viel jĂĽnger als ich. Sind alle viel lauter als ich. Und genau das tut verdammt gut. Hab das GefĂĽhl, dass junge Männer noch mehr GefĂĽhle zulassen. Noch mehr ĂĽber Ă„ngste sprechen. Und noch weniger in Rollenkonstrukte gesteckt werden möchten. Das darf gerne so. Bitte bitte.
  • Blicke ich in den Spiegel, sehe ich den kleinen Andi. Wie er laut lachend durch den Garten rennt. Mit breitem Grinsen und blonden Haaren. Hab nach langem Ăśberlegen den Schritt gewagt und meine Haare gefärbt. Ein bisschen aus Neugier. Ein bisschen aus Trotz und Wut auf meine Autoimmunerkrankung. Wenn manche Haare farblos zurĂĽckkommen, warum nicht selbst bestimmen, welche Farbe bleibt? Mag die Veränderung. Mag die Irritation, wenn ich Menschen nach langer Zeit wiedersehe. Und ich mag mich.
  • Es gibt BĂĽcher, die kein Entkommen zulassen. Schonungslos beschreibt Claudia Schumacher in ihrem DebĂĽtroman „Liebe ist gewaltig“ die Folgen häuslicher Gewalt. Was macht diese mit einem Kind? Einer Jugendlichen? Einer Erwachsenen? Wie befreit man sich von der Realität, die vehement von den Eltern abgestritten wird? Schonungslos und kraftvoll geschrieben. Ein Kampf um Selbstbestimmung. Eine Suche nach Identität.
  • Auf dem Sofa vor mir sitzt ein Freund. Das Sofa steht in einem CafĂ©. Ich sitze im Publikum. Ein ungewohnt schönes Erlebnis. Fabian Neidhardt liest aus seinem neuen Roman „Endlosschleifentage“. Eine Geschichte ĂĽber den Tod. Und ĂĽber Zeit. Zu viel davon. Wie lange dauert ein Abschied, der nie ganz vorbei ist? Wie trauert man zum ersten Mal? Eine liebevolle Erzählung. Gibt Raum ĂĽber Verlust nachzudenken. Lässt mich die Leere fĂĽhlen. Intensiv. Warm. Manchmal roh. Irgendwo zwischen Friedhof und abgedunkelter Wohnung.
  • Manche WĂĽnsche bleiben unausgesprochen, auch wenn sie Leidenschaft bedeuten. In „Want“ sammelte Gillian Anderson anonyme Texte von Frauen aus der ganzen Welt. Sie beschreiben darin sexuelle Fantasien, WĂĽnsche und SehnsĂĽchte. Ohne Einordnung. Ohne Pflicht zur Rechtfertigung. Es geht um Sex, Identität, Verletzbarkeit, Macht, Scham. Und um Zensur der eigenen BedĂĽrfnisse. Bekomme ein GefĂĽhl, wie divers, widersprĂĽchlich und tief weibliche Lust ist. Kann nur erahnen, wie oft sie unter Schichten von Anpassung versteckt wird.
  • Was als höfliche Tasse Tee fĂĽr eine einsame Frau beginnt, eskaliert zur obsessiven Belagerung – und zwingt den Protagonisten der Serie „Rentierbaby“ ein tief vergrabenes Trauma offenzulegen. Zwischen schwarzem Humor und fast unerträglicher Spannung zerlegt die Serie gängige Stalker-Mythen, entlarvt psychische AbgrĂĽnde und zeigt das Versagen der Justiz. Unangenehm nah, die Mischung aus Scham, Schuld und verzweifelter Selbstrettung. Ein schmerzhaft ehrlicher Blick darauf, wie schnell Opferrolle und Täterrolle verschwimmen – und wie schwer es ist, danach wieder frei zu atmen.
  • Trauma. Trigger. Flashback. Begriffe, die teilweise sehr inflationär verwendet werden. Aber was ist ein Traum? Wie entsteht es? Und wie lässt es sich in Fragmenten integrieren? Verena König hat im Hotel Matze sehr einfĂĽhlsam darĂĽber gesprochen, was unverarbeitete Erfahrungen machen und wie wichtig Sicherheit in Beziehungen ist.

Wann wurde dir das letzte Mal aufrichtig zugehört?
Schreib mir gerne. Auch einfach so. đź‘‹


Du magst meine Fragmente? Dann abonniere doch gerne den zugehörigen Newsletter und erhalte regelmäßig Post von mir. đꓬ