Schreiben. Stolpern. Schluckauf.

Kategorie: Texte (Seite 5 von 9)

Der Schal.

Ein leises Summen. Die Hände im Schoß. Gefaltet. Ihr Gesicht regungslos – nur ihre Augen wandern den Bahnsteig entlang. Ihr roter Schal greift an ihrem Hals empor. Hält ihn fest. Drückt ihn. Und gibt der Kälte keine Chance. Nicht nur der Kälte – auch den Schlägen ihres Herzens. Zwängt es in ein unsichtbares Korsett und lässt es erstummen.

Nach und nach fahren Züge ein. Menschen strömen heraus. Suchen hektisch den Ausgang. Wollen raus und in alle Himmelsrichtungen entfliehen. Dieses Spiel wiederholt sich. Nur die Frau bleibt sitzen. Streicht sich ein ums andere Mal die Haare aus dem Gesicht. Sie wippt. Unscheinbar.

Wartet oft an diesem Gleis. Eigentlich jeden Tag seitdem die Blätter fallen. Ihre Taschen sind leer, doch ihr Inneres bis zur Kante gefüllt. Gefüllt mit Schmerz, Sehnsucht und Erinnerungen. Gefühle für ihn. Den sie doch schon so lange nicht mehr gesehen hat. Und unbedingt wieder sehen möchte. Ihn endlich wieder in die Arme schließen zu können. Einer ihrer leisen Träume. Doch dieser Tag kommt nicht. Dafür ging er. Lies sie alleine zurück und suchte sein Glück in der Ferne. Wollte ausbrechen und brach somit sie.

Man merkt es ihr nicht an. Denn sie ist eine starke Frau. Achtet auf ihren Körper, doch misshandelt ihre Seele. Lautsprecherdurchsagen weißen auf Verspätungen hin. Der folgende Zug hängt im Tunnel fest. Ihre Gefühle hängen im Hals fest. Weichenstörung. Personenschaden. Ihr Lächeln zerbricht. Plötzlich und unerwartet. Ihre Hände entfalten sich. Zucken träge. Sie schaut nach links. Schaut auf die hellen Buchstaben an der Decke. Die Bahn ist weiter verspätet. Der Tunnel bleibt dunkel. Sie rückt nach vorne. Ist am Rande der Bank angekommen. Ihre Hände spüren den Abgrund. Halten ihn fest. Noch.

Manchmal muss man Dinge hinter sich lassen. Muss weitergehen und darf nicht zurückblicken. Das Schwierigste ist der erste Schritt. Aufstehen und los marschieren. Den Blick nach vorne gerichtet.

Ein leises Dröhnen auf den Schienen. Es kündigt den Zug an. Licht durchflutet den Tunnel. Der Bahnhof wird vom Schreien der Wagons erfüllt. Langsam und behäbig kommen die Tonnen voll Knochen und Gefühle zum Stehen. Die Türen öffnen sich schüchtern. Und die Massen strömen aus den Abteilen.

Die Frau ist weg. Hat den Schritt gemacht. Den einen großen Schritt.

Nun ist sie am Ende der Rolltreppe angekommen. Hat die Bank hinter sich gelassen. Ihre Arme treiben sie rhythmisch nach vorne. Und ihr Herz hinterlässt eine Spur an Erinnerungen auf dem dreckigen Boden. Nur noch ihr Schal liegt leblos auf der Bank. Dort, wo er hingehört. Ihr Hals spürt die warmen Sonnenstrahlen. Und bringt ihr Lächeln zurück. Stück für Stück.

Sonnen. Bad.

Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Kinder jagen Enten und Oma schaut ihnen zu. Lässt ihren Blick übers saftige Grün wandern. Lächelnd. Und vergisst dabei, wie alleine sie doch ist. Fahrradreifen. Auf hellem Kies. Hinterlassen Spuren, aber nur für kurz. Dann werden sie verwischt. Niemand wird sich an die Abdrücke erinnern können. Ein kurzer Moment, der ewig wirkt. Die Wolken haben heute Urlaub. Liegen irgendwo anders. Aber nicht an diesem Fleck. Ich fahre mit durchs Haar. Denke über die letzten Wochen nach. Ein auf und ab. Ohne Verlässlichkeiten oder Sicherheiten. 

Der Frühling lässt uns Dinge mit anderen Augen sehen. Er mag uns immer wieder blenden, aber wenn man nicht aufpasst, übersieht man den Wandel. Ein Wandel, der unsere Umgebung mit neuen Farben anstreicht. Leuchtend. Kraftvoll. Uns einen Schubs geben möchte. Ohne Ziel. Aber mit einer gewissen Härte. Diesmal lasse ich mich gerne treiben. Wie die Blüten auf der Bank neben mir. Loslassen. Zulassen.

Anders

Dieses Jahr war irgendwie anders. Weniger gerannt und mehr angekommen. Sehr viel nachgedacht, doch einst aufgehört. Zu oft die selben Fragen mit verbitterten Antworten. Habe Dinge akzeptiert, die mich und andere ausmachen. Dinge, die ich heute wertschätzen kann. Jedenfalls in den meisten Momenten. Trümmer mussten verschwinden, weil sie mich verletzt haben. Menschen mussten verschwinden, weil ich sie verletzt habe. Ohne es mir einzugestehen. Habe mich selbst angelogen. Eine dritte Chance zu jeder Zeit in der Hinterhand. Heute trägt man die Narben hinter lustigen Sprüchen. Bin deutlich öfter gefallen, öfter aufgestanden, öfter umgekehrt. Habe Momente erlebt, auf die ich gerne verzichtet hätte. Sie deswegen so sehr achte. Worte gesagt, Sätze vorgelesen und Lippen berührt. Habe Bücher verschlungen und sie als Geschenk vor deiner Tür abgelegt. Der Hunger hat sich gelegt. Die Hektik ist nur noch selten zu Besuch. Hab mein Tempo gefunden, das so anders ist als zuvor. Kann dir wieder in die Augen blicken. Mit einem Grinsen im Gesicht. Kann über Vergangenes reden und von Zukünftigem träumen. Und auch wenn ich manchmal einsamer als zuvor bin, fühle ich mich aufgehobener als die letzten Male.

Dieses Jahr war irgendwie anders. In seinen Farben und Melodien. Mehr leise als laut. Die Augenringe noch etwas tiefer, den Blick wieder nach oben gerichtet. Betrachte Sterne nur noch bei Mitternacht während ich tagsüber von dir träume. Hast mich zum Tanzen gebracht. Unbekannter Schritt zu lautlosem Takt. Alles etwas anders. Anders gedacht als erhofft. Doch ich mag das. Mag das, was da ist. Auch an den Tagen, an denen da nichts ist als Schweigen. Nicht mehr als ein Versprechen zwischen Zweien. Stolpere durch ein Meer an Satzanfängen. Die Enden nicht absehbar. Die Nebensätze nur angedeutet. Freue mich auf das nächste Wort. Wie bereits damals. Nur irgendwie anders.

398.218

Ein kleiner Kreis, der sich gleichmäßig dreht. Ganz ohne Hektik. Grau. Kühl. Deine Augen folgen ihm. Möchten ihn anschubsen und ihn schneller werden lassen. Draußen ist es dunkel. Du sitzt auf kalten Stufen. Hinter dir die alte Holztür. Verschlossen. Du kommst dort nicht mehr hinein. Wo du vor einer halben Stunde voller Vorfreude die Stufen hoch gesprungen bist, hat die Nacht jeden Zentimeter wieder zurück erobert. Deine Hose durchnässt vom Herbst. Deine Bluse durchnässt von Tränen. Schwarzer Kajal wirkt wie ein alter Vorhang. Hängt in Fetzen an deiner Wange. Wurdest weggeschickt. Ein letztes Mal. Aus gemeinsamem Lachen wurde ein einspuriger Dialog. Du hast zugehört. Hast jedes Wort in dir aufgesaugt. Bis es nichts mehr zu sagen gab. Bis er nichts mehr zu werfen hatte. Halbvolle Gläser auf dem Fenstersims. Hast rausgeschaut. Den Regen gehört doch nichts gesehen. Bist hineingelaufen. Ungewollt.

Jetzt frierst du. Zitterst unkontrolliert am ganzen Körper. Um dich herum nur mehr Fremdes. Am anderen Ende der Stadt. Keine Mitbewohner, die dich in den Arm nehmen. Keine Decke, unter der du dich verkriechen könntest. Nichts außer diese schreckliche Dunkelheit. Und ein Kreis, der sich immer noch dreht. Schreie und Verzweiflung fluten deinen Kopf. Dein Herz. Deinen gesamten Körper, wo sie in viel zu großen Wellen schlagen. Sehnst dich nach der einen Melodie. Laute Töne. Grelle Bilder. Der Glaube an so etwas wie Flucht. Großstädte lassen einen treiben. Alles wirkt zum Erobern bereit. Doch mit der Zeit wird dir klar, dass alles nur Fassaden sind. Große Mauern, die nicht erklommen werden können. Die eine Flucht verhindern und dich dazu zwingen umzudrehen. Einen neuen Weg zu suchen, der dich dann doch irgendwann wieder einholt. Und so bleibt dir manchmal nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben. Dich zu setzen. Weil du nicht mehr kannst. Weil du es nicht mehr willst. Greifst in deine Tasche und suchst diese eine Melodie. Greifst nach allem Bekannten, um die Reste aus den Augen zu spülen. Die Reste der Nacht. Der Lichter. Der Tränen.

Der Kreis verschwindet. Alles schwarz. Deine Augen. Sie weiten sich. Dein Herz. Es weitet sich. Wartest auf den Schlag, der dann endlich erfolgt. Ein grelles Flackern in deinem Gesicht und schließlich diese Melodie aus den Kopfhörern. Blickst in deinen Schoß und siehst so bekannte Bilder. Momente, die du in den letzten Wochen so oft betrachtet hast. Auf dem Heimweg. In der Uni. Auf dem Balkon. Abends. Wenn deine Mitbewohner feiern waren, du aber andere Dinge tun wolltest. Keiner hat bemerkt, was dir verloren ging. Keiner hat danach gefragt. Und so war dieses eine Lied alles für dich. Diese 2 Minuten und 59 Sekunden wohlige Wärme.

Die Stufen. Sie gehören dir. Aber du kauerst dich zusammen. Machst dich ganz klein, um nicht weiter zu stören. Nicht nochmal im Mittelpunkt stehen. Zorn auslösen. Nicht jetzt. Spürst die raue Mauer in deinem Rücken. Zugedeckt von dieser einen Melodie und wenigen Worten. Kennst sie auswendig. Jedes Komma hat kleine Druckstellen hinterlassen. Jede Pause gibt dir die Möglichkeit Luft zu schnappen. Kalte Luft, welche die Lücken in dir schließt. Die Vorwürfe ummantelt. Erstarren lässt. Bis der Moment innehält. Nicht freiwillig. Und nicht für lange Zeit. Es wirkt, als ob das Lied um sich schlägt. Ausbricht aus deinen weißen Kopfhörern und dem schwarzen Käfig in deiner Hand. Sich aufrichtet und ohne zu warten die Tür hinter dir eintritt. Stufen überspringt. Wohnungen durchsucht. Findet. Vernichtet.

Ein kleiner Kreis, der sich gleichmäßig dreht. Die Melodie ist verstummt. Der Regen geblieben. 398.218 Menschen haben sie gehört. In unterschiedlichsten Momenten. Aber alle aus dem selben Grund. Du steckst das Handy in die Tasche. Stehst auf. Und verschwindest in der Stadt.

Hallo Herbst.

Verschlafen gehe ich in Richtung U-Bahn und muss feststellen, dass der Herbst über Nacht durch die Gassen gezogen ist. Was er hinterlassen hat, fällt nun in bunten Farben auf meine Kapuze. Kleine Kinder haben mit strahlenden Augen damit begonnen Kastanien zu sammeln, während gehetzte Eltern hektisch an ihren Jacken zerren. Mich drängt niemand und dennoch laufe ich ohne Umwege in Richtung Bahnsteig. Streife kreischende Plakate mit leblos dreinblickenden Menschen. Kenne sie nicht und stelle mich irgendwo hin. Zwischen Anzügen und Leggings, Smartphones und Zeitungen suche ich nach meinen Kopfhörern. Jede Jahreszeit hat ihre eigenen Lieder. Und ich lasse sie in Dauerschleife wirken. Große Bilder begleiten mich auf meiner Runde durch die Stadt. Ich schaue grinsend aus dem Fenster und denk an dich. Erblicke den Hafen und seine Gäste, die ehrfürchtig ihre Runde drehen. Die Sonne spiegelt sich in den Bürokomplexen, darin Frühaufsteher fleißig am debattieren. Mag selbst nicht reden, denn mir mangelt es an passenden Worten. Hab mich wieder gefunden. Unter einem Berg an Sorgen und Ängsten. Jetzt sitz ich  da und lass es auf mich zukommen. Kleine Überraschungen, die sich in noch kleineren Momenten verstecken. Herzklopfen. Versprechen. Hoffnungen. Aber auch Tränen und schmerzende Gefühle, die gehören. Mich ausmachen. Es ausmachen. Uns neugierig werden lassen auf den nächsten Tag. Den nächsten Satz, der zwischen uns springt. Streife meine Kapuze ab und lege meinen Kopf auf deine Schulter. Hallo Herbst.